Emanuele Soavi im Gespräch mit Anne-Kathrin Reif
In „Atlas 3 – Blu Blu Blu“ geht es um große Themen: Um den Menschen als leibliches Wesen, um das körperhafte Verhältnis zum anderen in einem Spannungsverhältnis zwischen Annäherung, Vereinigung und Kampf, um Vergänglichkeit, Tod und die Sehnsucht, Spuren zu hinterlassen. Dabei finden so gegensätzliche Elemente wie Tanz und Judo, elektronische Musik und Johann Sebastian Bachs „Chaconne“ – live gespielt von der Violinistin Nadja Zwiener und dem Soundkünstler Johannes Malfatti – auf spannungsvolle Weise zusammen. Welche große Bedeutung die Musik Bachs dabei hatte, und was die Farbe Blau damit zu tun hat, erläutert Emanuele Soavi im Gespräch.
Der Abend „Atlas 3 – Blu Blu Blu“ ist ja der dritte und letzte Teil eines größeren Projektes. Wie hängt er mit den beiden vorigen Teilen zusammen?
Emanuele Soavi: In dem „Atlas-Projekt“ habe ich angefangen, mit der Idee der „Anatomie des Menschen“ zu arbeiten. Anatomie nicht im Sinne des ganzen Körpers als vielmehr der Teile von Körper. Atlas 1 hatte mit dem Hören und Kommunizieren zu tun. Atlas 2 bezog sich hauptsächlich auf den Kopf und alles, was damit zu tun hat. Atlas 3 hat mehr mit der Seele und Emotionen zu tun – was für mich auch zur Anatomie des Menschen gehört. Es geht um Fragen wie: Was passiert mit bzw. im Herzen, oder welche Rolle spielen die Instinkte, wenn wir handeln, ohne alles kontrollieren zu können?
In „Atlas 3“ kommen nun zeitgenössischer Tanz, Barockmusik, elektronische Musik und Judo zusammen – eine höchst ungewöhnliche Kombination! Wie bist du dazu gekommen?
E.S.: Bevor das alles zusammenfand, stand tatsächlich eine ganz andere, nämlich visuelle Assoziation am Anfang: die Farbe Blau. Der Abend hat dann schließlich auch den Titel „Blu Blu Blu“ bekommen. Blau ist für mich eine Farbe, die eng mit der Gefühlsebene verbunden ist. Sie kann sehr positiv wahrgenommen werden aber genauso auch negativ. Sie kann hell und schön wirken wie der blaue Himmel oder das blaue Meer, aber man sagt auch „I’m feeling blue“, wenn man traurig ist. Blau hat immer diese Ambivalenz – und dieses Gefühl übertragen wir auf den Bühnenraum, der über weite Teile des Stücks in blaues Licht getaucht wird. Über diese Gedanken – das Blau, Körper, Seele, Emotionen – habe ich angefangen, mich mit der Violinistin Nadja Zwiener auszutauschen. Dabei sind wir auf Johann Sebastian Bach gekommen und seine Chaconne aus der Partita Nr. 2 für Violine solo.
Die Barockmusik von Bach war also ein wichtiger Ausgangspunkt für das Stück…
E.S.: Ja, aber eben genau dieses Stück für Solo-Violine mit seiner besonderen Geschichte. Die Partita gehört zu dem sechsteiligen Werk „Sei Solo“ (BWV 1001-1006), das Bach komponierte, als er nach drei Monaten Abwesenheit nach Leipzig zurückkehrte und erfahren musste, dass seine Frau in der Zwischenzeit gestorben war. Daraufhin komponierte er diese sechs Solostücke: „sei solo“ – und nicht „sei soli“, wie die richtige Pluralform wäre. Im Singular „sei solo“ bedeutet es „du bist allein“. Die Musikwissenschaft hat herausgefunden, dass in der Chaconne Choräle versteckt sind, die um das Thema Tod und Auferstehung kreisen. Ich hatte für das Stück ursprünglich eine völlig andere Musikrichtung im Sinn, aber diese sehr emotionale Musik mit der Solovioline und dem Thema der Zweisamkeit bzw. verlorenen Zweisamkeit fügte sich plötzlich mit dem Themenkomplex des Stücks, das ich im Sinn hatte, wunderbar zusammen – umso mehr, je tiefer wir uns mit der Musik und verschiedenen Analysen und Interpretationen davon beschäftigt haben. Ich habe in diesem Stück zu Anfang viel mehr mit der Musik gearbeitet als mit den Tänzern oder den Judoka. Die ersten Wochen der Probenzeit habe ich nur mit den beiden Musikern im Musikstudio gearbeitet. Das war sehr inspirierend. Diese Partitur hat viel zu tun mit der Situation „ein Mensch in einem Raum“. Bach alleine in einem Raum schreibt etwas für eine Frau – seine verstorbene Frau. Von da aus wurde dann das Thema der Ich-Du-Beziehung interessant für uns – und wir überlegten: Warum machen wir diesen Dialog zwischen Ich und Du nicht als Dialog zwischen unterschiedlichen Disziplinen?
Das war also sozusagen die Keimzelle des Ganzen… Das „dialogische Prinzip“ ist dann aber auf verschiedenen Ebenen zur bestimmenden Struktur des Stücks geworden, nicht wahr?
E.S.: Ja, genau. Zunächst haben wir auf der Ebene der Musik die Barockmusik Bachs in einen Dialog gebracht mit einer zeitgenössischen elektronischen Komposition: Die Solo-Violinistin Nadja Zwiener musiziert live auf der Bühne mit dem Komponisten und Soundkünstler Johannes Malfatti. Dann haben wir zwei Tänzer, Lisa Kirsch und Federico Casadei – einen Mann und eine Frau mit ihren je eigenen Geschichten. Schließlich kommt noch Judo hinzu – eine zweite Körperkunst neben dem Tanz, wiederum mit zwei Akteuren, den Judoka Tobias Mathieu und Aaron Schneider.
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Hat das auch mit deiner ganz persönlichen Geschichte zu tun? Du hast früher selbst Judo betrieben…
E.S.: Das kam tatsächlich zunächst aus einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich aus meiner Beschäftigung mit der Farbe Blau in der Kunst. Dabei kam ich natürlich an Yves Klein nicht vorbei. Und für Yves Klein hatte Judo und die japanische Kultur überhaupt eine große Bedeutung. Er hat selbst trainiert, hat sich in Japan aufgehalten und eine Art Tagebuch darüber geschrieben – über diese Philosophie des Judo, die Idee der Freiheit, wobei die Füße aber zugleich auf dem Boden, auf der Erde bleiben. Und das Verhältnis von Ich und Du ist beim Judo zentral: Wenn ich kämpfe, muss ich aufpassen, dass ich meinen Gegner nicht töte, denn sonst kann ich nicht mit ihm weiterspielen. Es ist ein Kampf, aber nicht mit dem Ziel, den anderen zu zerstören. Beide müssen die Grenzen einhalten, denn sonst gibt es keinen Dialog mehr zwischen Ich und Du. Für mich war das gewissermaßen ein „externer roter Faden“, den ich dann weitergesponnen habe. Tatsächlich habe ich als Kind auch sechs oder sieben Jahre lang Judo gemacht – mein Onkel war sogar Leiter der Judo-Schule. Aber das war für mich als Thema gar nicht mehr präsent gewesen. Erst über diese Verbindung mit Yves Klein bin ich darauf gekommen und konnte dann natürlich auch wieder an meine Erfahrungen anknüpfen.
Worin siehst du Gemeinsamkeiten zwischen Tanz und Judo, der doch eigentlich ein Kampfsport ist?
E.S.: Zunächst einmal arbeiten beide Formen mit dem Körper und mit dem Zusammenspiel von Körpern. Und dabei hat jeder auch eine Verantwortung für den anderen – im Judo genauso wie im klassischen Ballett. Es ist eine fragile Beziehung, zu der beide Partner ihren Teil beitragen. Und es gibt immer diese Aktionen mit den Händen, die Berührungen. Auch hat Judo viel zu tun mit dem Boden, mit der Schwerkraft. Man benutzt den Boden als Basis, als Hilfe.
Im Tanz, vor allem im klassischen Ballett mit seinen Sprüngen und Hebefiguren geht es dagegen ja eher um die Überwindung der Schwerkraft…
E.S.: Ja, aber gerade die Arbeit mit dem Boden ist etwas, das mich sehr interessiert. Die Vorstellung, dass man den Raum gedanklich auch drehen kann – und dann bin ich als Mensch plötzlich nicht mehr vertikal ausgerichtet, sondern horizontal. Meine Möglichkeiten und Erfahrungen sind auf einmal komplett andere. Im Judo gibt es auch diese Möglichkeit, den Raum zu drehen – deshalb passen diese beiden Disziplinen sehr gut zusammen. In Blu Blu Blu gibt es sowohl in den beiden getanzten Teilen wie auch im Judoteil große Passagen, die am Boden stattfinden.
Hat sich das durch deine jetzige Auseinandersetzung mit dem Judo noch verstärkt, oder hast du immer schon so stark mit dem Boden gearbeitet?
E.S.: Eigentlich hat sich das im Laufe der Jahre immer mehr dahin entwickelt.
Im Zusammenhang von Blu Blu Blu ist aber entscheidend, dass es eine direkte Verbindung zur Musik von Johann Sebastian Bach hat. Der Anfang der Chaconne ist in d-Moll – das ist schwer, das fällt zu Boden, das ist der Tod. Das Stück beginnt entsprechend mit einem Solo, dann kommt der erste Kontakt mit der zweiten Person – mit dieser Idee „ich nehme dich, ich halte dich fest.“ Man sieht das in der Videoprojektion, wie sich die Hände in die Haut graben, so wie später die Judoka sich an den Kimonos greifen. Dann kommt der mittlere Teil, den Bach in D-Dur geschrieben hat – er vermittelt musikalisch einen Aufstieg, und die Tänzer sind in diesem Teil im Dialog miteinander. Es geht immer weiter hoch, hoch, hoch, bis die beiden denken, sie sind ganz oben – und dann fallen sie wieder runter. Das ist dann der letzte, der Ostinato-Teil, wieder in d-Moll. Lisa bleibt alleine zurück. Alles kommt zur Ruhe. Du findest Dich selbst auf dem Boden der Tatsachen wieder, hast aber deine Erinnerung. Das ist die Chance zur Reflexion, zur Erkenntnis, welche Spuren dein Leben hinterlässt.
Lass uns nochmal zurückkehren zu dem Verhältnis von Tanz und Judo in Blu Blu Blu. Wie hast du überhaupt mit den beiden Judoka gearbeitet? Hast du die Abläufe choreografiert, habt ihr das gemeinsam entwickelt, oder handelt es sich um einen ritualisierten Ablauf, der aus dem Judosport stammt?
E.S.: Das haben wir ein bisschen halbe-halbe gemacht. Am Anfang sind wir ins Judo-Studio gegangen, auch mit den beiden Tänzern, und wir haben zusammen Teile von ihrem Training, von den Ritualen des Judo gesammelt. Genauso wie im Ballett gibt es im Judo Figuren oder Schritte, die eine bestimmte Bezeichnung haben. Aus dieser Sammlung von Bewegungen haben wir eine dramaturgische Folge gemacht. Wir wollten die Situation des Kampfes kompakt zeigen, aber eben mit einer gewissen Dramaturgie. So spielen die Judoka auch mit den Tempi, wie in der Musik. Es ist nicht alles schnell und spontan, es gibt auch Abläufe wie in Slow Motion oder ein Stillstehen. Das haben wir choreografiert, bzw. im Zusammenspiel mit der Videoprojektion konstruiert. Wir haben auch viel mit der Idee „Hand“ gearbeitet, denn das ist für mich ein wichtiges Körperteil in diesem Zusammenhang. Die Hand, das Anfassen des Anderen ist das erste, was man beim Judo sieht. Im modernen Tanz, etwa in der Folkwang-Schule oder bei Mary Wigman, ist die Hand auch ein sehr wichtiges Element. Den ganzen Ablauf mussten die beiden tatsächlich trainieren wie eine Choreografie. Übrigens haben auch die Tänzer diesen Teil mit trainiert, so dass es da eine Begegnung gab und sie ein Verständnis dafür entwickeln konnten.
Nochmal zu dem Verhältnis der Paare: Judo ist ja nunmal ein Kampfsport. Zwar werden Grenzen eingehalten, man hat auch Verantwortung für den anderen – aber es ist ein Kampf. Siehst du den Tanz des Paares auch als eine Art Kampf? Mir scheint, als gäbe es immerhin Elemente von Kampf auch zwischen den beiden. Ist vielleicht sogar durch die Konfrontation mit dem Judo mehr Kampf in den Tanz gekommen?
E.S.: Ich möchte es im Tanz nicht Kampf nennen. Es ist eine Konfrontation zwischen zwei Individuen. Das hat auch viel mit der Realität zu tun. Wenn du jeden Tag mit einem Partner zusammenbist, gibt es die ganz glücklichen, nahen Momente, und manchmal brauchst du deinen Abstand. Es gibt Auseinandersetzungen. Es ist diese Situation zwischen den beiden, die wir darstellen. So, wie es wahrscheinlich jedes Paar in der Realität kennt.
Die beiden Judoka tragen ihre normale Sportkleidung, während ihres Parts gibt es keine Musik – nur die in blaues Licht getauchte Szenerie bietet eine gewisse Verfremdung. War es dir wichtig, den Judo-Teil nicht – etwa durch eine weitergeführte Musik oder Kostüme – der Ästhetik der getanzten Teile anzunähern, sondern ihn für sich stehen zu lassen? Warum?
E.S.: Wir hatten zunächst überlegt, die Musik weiterzuspielen. Aber ich fand, es war zu viel. Es nimmt etwas von der Konzentration weg, sich auf dieses ganz andere einzulassen. Nach dem ersten Tanzteil kommt plötzlich „out of the blue“ der Judo-Kampf – fast wie ein Surrealismus, oder wie eine Insel zwischen den zwei Welten von Tanz und Musik im ersten und im dritten Teil. Für uns als Zuschauer gibt es dadurch auch ein Ruhemoment. Das finde ich sehr wichtig. Diese ganze Virtuosität der Musik, der Barockgeige, der Bilder in den Videoprojektionen hat Pause. Als Zuschauer bleibst du bei dir selbst und hörst nur, was diese beiden Körper machen, das Atmen, das Aufklatschen auf der Matte. Ich finde es sehr schön, auch diese Stille-Momente zu zeigen. Und das alles in dieses Blau getaucht.
Das Blau wechselt drei Mal – deshalb der Stücktitel Blu Blu Blu – , es gibt drei verschiedene Filter von diesem Yves-Klein-Blau. Diese Atmosphäre zusammen mit dieser Ruhe – das schafft eine besondere Konzentration. Alles andere, Musik, Kostüme, hätte eine Fremdheit da hineingebracht. Es könnte wie eine Parodie von Judo erscheinen. Ich wollte es konkreter haben, es sollte mit der Realität von Judo zu tun haben.
Ich finde es sehr spannend, zu erleben, wie man in diesem Zusammenhang des Tanzes den Judokampf ganz anders betrachtet, als wenn man in ein Sportstudio gehen würde oder zu einem Wettkampf. Man hat einen ganz anderen Blick darauf und stellt selber Verbindungen zum Tanz her.
E.S.: Das finde ich auch. Aber genau dafür war es wichtig, dass die Judoka in ihrem Tun authentisch bleiben. Ich wollte sie nicht zu Figuren eines Regisseurs bzw. Choreografen machen, ich wollte mit dem Kampfsport keinen artifiziellen Teil zwischen dem Tanz machen.
Durch dieses gesamte Setting schaut man das Judo anders an – aber es scheint auch umgekehrt zu funktionieren. Im zweiten Tanzteil meinte ich auf einmal, im Tanz etwas aus dem Judo wiederzuerkennen. Ist das auch nur eine Veränderung des Blicks, oder hast du das bewusst in diese Richtung gedreht?
E.S.: Das war nicht bewusst so kalkuliert. Ich hatte ja auch schon bei der Arbeit am ersten Teil den Judo-Teil im Blick und habe da schon mit ähnlichen Elementen gearbeitet. Aber mit der Seherfahrung aus dem zweiten Teil, erkennt man das im dritten Teil deutlicher, man sieht die Ähnlichkeiten in der Bewegung, zum Beispiel bei den Elementen des Kampfes. Das ist genau der Prozess, der im Laufe des Stücks passiert.
Das Interview führte Anne-Kathrin Reif
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