„Acts“ – er packt das Wörtchen bei seiner reizvollsten Bedeutung: dem nackten Akt. Auf seinem Selfie-Beitrag zur Ausstellung „Acts“ muss das Betrachter-Auge unzählige Backsteine entlang nach rechts wandern, dann trifft es auf Emanuele Soavi. Ganz bloß steht er da im Rahmen einer zugemauerten Tür, lehnt als romantischer Melancholiker die Stirn an die Wand. Keiner, der gegen Mauern rast, der sie mit Gewalt einreißen will. Sondern einer, der auch in ihnen noch Poesie und Schönheit sucht, der sie sichtbar macht und mit behutsamer Ironie bespielt. Das Foto mag einer sehr speziellen, sehr extremen Situation geschuldet sein – dem Corona-Shutdown. Aber es steckt darin doch auch ein Quentchen Soavi-Philosophie, die alle seine Stücke prägt, egal, ob er den abstrakten Tänzer, den Rollen-Schauspieler, den Entertainer gibt.
Ende der 1990er Jahre zeigt er erste eigene Arbeiten, davor arbeitet Soavi als Tänzer bei der niederländischen Kompanie „Introdans“ mit ein paar der aufregendsten Choreografen Europas: Jiří Kylián, Mats Ek, Hans van Manen. Dann auch William Forsythe, dem wohl besten Meister, soll aus einem Tänzer ein Choreograf werden. Und das soll so sein bei Emanuele Soavi. Auch, weil er sich als 1,65-Meter großer Tänzer viel zu sehr auf das Nette, Witzige, Sympathische abonniert fühlt. Was andere nicht für ihn choreografieren, choreografiert er eben künftig für sich selbst.
„Incompany“ – ein Name, ein Programm
2012 gründet er „Emanuele Soavi incompany“ – ein Name, ein Programm. Denn klar, Tanz ist eine Kollektivkunst. Der Choreograf ist – von wenigen Solo-Sonderlingen abgesehen – immer „in company“. Die wenigsten Stücke entstehen so einsam wie Bücher oder Gemälde. Aber eigentlich ist Tanz auch eine Hierarchie-Kunst. Und eben das soll bei Emanuele Soavi anders sein. Er sucht den Dialog auf Augenhöhe, nennt seine Tänzer „Ko-Choreografen“ oder holt sich Kollegen als gleichberechtigte Partner für seine interdisziplinären Kreationen. Unvergesslich etwa seine Produktion „Lvmen“ mit einem Paparazzi-gleich hinterherrennenden oder über den Boden robbenden Fotografen Joris Jan Bos, der im Live-Shooting die abgefahrensten Tanzposen fixierte. Oder sein schwarzer Chaostrip „Aurea“, in dem die Tanztheater-Ikone Susanne Linke als mütterliche Mentorin waltete, dabei den Phoenix in die Asche stieß und ihn zur Lust an der Verstörung beflügelte. Obwohl … Eigentlich hat er diese Lust auch schon in früheren Stücken bewiesen.
Nah am psychotischen Abgrund
Soavi ist der klassische Zwitterkünstler: supernett im Leben, humorvoll, heiter, herzlich. Aber garstig, obszön, dämonisch in seinen fiktiven Selbstentwürfen. In seiner Hommage an Gott „Pan“ tänzelt Soavi leise meckernd über die Bühne, oben Mensch, unten Ziegenbock, und zelebriert auch schon mal in Anlehnung an Nijinskys Faun virtuos choreografierte Onanie. Oder „BlackBirdBoy“. Da ist er der Star am psychotischen Abgrund: schwarzer Schwan, platinblonder Transvestit, irre lachender Dämon – bizarrer Horror als wäre man im Kosmos von Kultregisseur David Lynch. Soavi und seine „Selbstbilder“ …
Virtuos, koboldig, schön
Aber dann ist da ja noch Soavi, der Choreograf für andere. Auch in seinen Ensemblestücken inszeniert er gern drastische Szenen und Bilder, liebt Nackheit und Groteske mit grimassierenden Performern, oder kleine Schocker wie aus großer Höhe herabstürzende Tänzer. Aber doch nicht so wild, dass ein breites, bildungsbürgerliches Publikum sich ernsthaft abgestoßen fühlen müsste. Sein feingliedrig-schneller Tanzstil garantiert den Schauwert der Virtuosität, ist immer zugleich schön perfekte Form und unberechenbare Koboldhaftigkeit. Tänzer wie der gummigelenkige Federico Casadei oder die sich begeistert verausgabende Lisa Kirsch sind feste Konstanten in seinem Ensemble. Daneben tauchen immer mal Tänzer renommierter Kompanien auf: von der Spellbound Dance Company oder – natürlich – von Forsythe, wie Jone San Martin und Cora Bos-Kroese. Und so stark seine Bildästhetik auch sein mag, letztlich ist das pulsierende Herz seiner Arbeiten kein Regieeinfall, keine Szene, kein spektakuläres Setting. Sondern: der Tanz.
Grenzgänger zwischen freier Szene und Stadttheater
So hat es Emanuele Soavi wie kaum ein anderer Choreograf der freien Szene geschafft, immer wieder auch von Stadttheatern und kommunalen Häusern angefragt zu werden. Dort realisiert er Großprojekte, stürzt sich todesmutig ins Wagnis und koordiniert Orchester der Alten / Neuen / Elektronischen Musik, seine Tanz-Kompanie und Schauspiel – und behält auch bei kürzesten Probenzeiten noch die Nerven. Wie in der opulenten Mythentrilogie „Verführer“ in Duisburg mit den dortigen Philharmonikern. Für das Staatstheater am Gärtnerplatz choreografiert er Kinder- und Jugendtanzstücke wie „Peter und der Wolf“ oder „Peter Pan“. Und für die Kölner Philharmonie erfindet er gemeinsam mit dem Vokal-Ensemble Cantus Cölln eine „Choral-Choreografie“ zum Thema Auferstehung.
Tradition in Camp-Ästhetik
Echt jetzt? Einen zeitgenössischen Choreografen interessiert ein christliches Dogma wie die Auferstehung? Soavi schon, sein Faible für konservativ anmutende Sujets – das Paradies, die Operette, die Tanzgeschichte oder die griechische Mythenwelt – zählt auch zu den sympathischen Seiten dieses Charming-Boy-Choreografen. Traditionen, die er dann mit Sexappeal, Techno und Camp-Ästhetik aufpeppt, die ihm aber offenbar doch auf seine Weise ‚heilig‘ sind. Nicht mit dem Kopf gegen die Wand eben. Im Zweifel, und wenn nicht gerade ein Lockdown die Glieder lähmt, dann tänzelt Emanuele Soavi oben auf ihrer Kante entlang. Ein Träumer. Körpersensibler Artist. Und auch ein bisschen: risikofreudiger Narr.